Kennen Sie das „Abilene Paradoxon“? Der Begriff kommt aus der Gruppendynamik und beschreibt Entscheidung, die getroffen werden, die niemand wirklich will. Der Management-Professor Jerry B. Harvey hat diesen Begriff geprägt [https://www.aspeninstitute.org/wp-content/uploads/files/content/upload/16-Harvey-Abilene-Paradox-redacted.pdf]
Es handelt sich um einen kollektiven Trugschluss: Eine Gruppe von Menschen entscheidet sich gemeinsam für eine Vorgehensweise, die den Präferenzen der meisten oder aller Individuen in der Gruppe zuwiderläuft. Gleichzeitig glaubt jede und jeder, dass die Entscheidung den meisten anderen gefällt oder sie übereinstimmen.
Verdeutlicht hat Harvey das mit einer Anekdote, die an einem heißen Tag im Juli 1974 in den USA beginnt. Er sitzt mit seiner Frau und deren Eltern auf der Veranda, es ist Sonntagnachmittag. Der Schwiegervater schlägt vor, zum Abendessen nach Abilene zu fahren. Seine Frau stimmt zu, die Schwiegermutter hält es für eine gute Idee und damit fährt die Familie im Sandstum und im damals sicher nicht klimatisierten Auto 53 Meilen zum Essen hin und 53 Meilen retour. Vier Stunden später, als alle erschöpft und überhitzt, enttäuscht über das schlechte Essen zu Hause ankommen, will Harvey den Abend retten und spricht von einem „tollen Ausflug“, woraufhin die Schwiegermutter gesteht, sie wäre von Anfang an lieber zuhause geblieben. Weil aber alle so begeistert waren, wäre sie mitgefahren. Der Schwiegervater räumt ein, er hätte den Vorschlag überhaupt nur deshalb gemacht, weil er dachte, der Familie wäre langweilig gewesen. Harvey und seine Frau wiederum wären nur mitgekommen, um die anderen glücklich zu machen. Wie konnte das passieren? Vier mündige Erwachsene machen freiwillig einen Ausflug, auf den keiner Lust hatte.
Es ist laut Harvey und dem so Abilene Paradoxon das Ergebnis von Konsens durch Schweigen. Mehrere Faktoren können zum Abilene-Paradoxon, die sich nicht nur in Familien, sondern vor allem in Teams und ganzen Organisationen zeigt, beitragen:
- Mangelhafte Kommunikationserfahrungen innerhalb der Gruppe: wenn Teammitglieder nicht gelernt haben, sich auszudrücken oder es nicht gewohnt sich individuelle Vorlieben und Wünsche offen zu äußern, entsteht Schweigen, das keinem hilft
- Harmonie-Orientierung: Ein starker Wunsch von Einzelpersonen und ganzen Teams nach Harmonie führt zu Vermeidung selbst kleinerer Aussprache; diese brauchen wir aber für das Lernen, wie mit Dissens umgegangen wird und damit Teams zu einer gesunden Konfliktkultur kommen. Unter Umständen kommt diese Harmonie-Orientierung aus der Angst vor Ablehnung, Gegenreaktion oder negative Konsequenzen, wenn eine Person ihre abweichende Meinung äußert.
- Groupthink [Janis, I. I. (1972). Victims of groupthink. Boston: Houghton-Mifflin] Groupthink ist ein psychologisches Phänomen, bei dem der Wunsch nach Einstimmigkeit Vorrang hat. Obwohl der oder die einzelne eine andere Meinung hat, schließt er*sie sich der Gruppenmeinung an. Niemand möchte der oder diejenige sein, der Zweifel oder Kritik laut ausspricht. Die Gruppe ist wie ein eigenständig denkender Organismus, der auch Entscheidungen einstimmig trifft (obwohl Personen einzeln gefragt, anders entschieden hätten).
Für das Thema Widerstand im Change lernen wir schon in „Normalzeiten“ zu lernen, auf kritische Stimmen zu hören, Dissens als wichtiges Korrektiv zu sehen und Formen des Umgangs zu finden. Gegenteilige Positionen sind ein gesunder Teil des Miteinanders in Teams und Organisationen.