Archiv für den Monat: November 2020

Autonom durch den Nebel

Die Art, wie Führungskräfte ihre Teams durch den Nebel lotsen, sind verschieden: Kleine, reflektierbare Schritte oder volle Autonomie für die Mitarbeitenden – beides kann notwendig sein.

Nicht wenige Führungskräfte haben im neuen Normal das Gefühl, die Kontrolle zu verlieren. Nicht andauernd, aber immer mal wieder. Einige reagieren mit Micromanagement und laufender Zeit- und Leistungsüberprüfung ihre Mitarbeitenden. Das führt auf der anderen Seite zu Frustration und Resignation – und in manchen Fällen zu Reaktanz. Als Reaktanz beschreibt die Psychologie eine Abwehrreaktion, wenn der gefühlte Entscheidungsraum eingeengt wird oder sogar wegfällt. Wenn also bisher autonome Entscheidungen des einzelnen Mitarbeitenden beispielsweise wie er den Arbeitstag gestaltet, welche Aufgaben er wie priorisiert nun im Home Office eingeschränkt werden, dann kann dies zu sehr heftigen Reaktionen führen. Denn nachvollziehbar ist: „Nimmt mir jemand meine bisherigen Freiheiten weg, dann hole ich sie mir zurück!“ Durch „Dienst nach Vorschrift“, durch stumpfes Nachfragen oder Blödstellen, durch bewusstes Fehlermachen oder „Delegieren nach oben“ – die Varianten reaktanten Verhaltens sind so groß wie die Bandbreite menschlicher Phantasien.

Die gute Nachricht für Führung: Autonomie zulassen – gerade in Zeiten der Unsicherheit – hilft. Einem Teil des Teams gibt dieses Gefühl anhaltender Freiheit und Freiräume Sicherheit. Diese Mitarbeiter*innen, die mit Flexibilität umgehen können, gewinnen so Boden unter den Füßen, weil ihre Autonomie nicht in Frage gestellt wird. Je mehr Freiheit umso mehr Sicherheit. Und vor allem umso mehr Leistung. Interessanterweise zeigen Studien, dass Menschen, die viel Kontrolle über ihre Arbeitsgestaltung haben, mehr arbeiten. „Die Zunahme der Arbeitszeit war am größten, wenn die Arbeitnehmer*innen volle Autonomie hatten“, so Heejung Chung und Yvonne Lott zu einer Datenanalyse in Deutschland. Ihre Erkenntnisse werden heute unter dem Begriff „Paradox der Autonomie“ zusammengefasst. Was auf der umkehrten Seite eine Burn-Out-Gefahr drohen lässt. Der Spagat zwischen Autonomiegewährung und gute Beobachtung aller Teammitglieder ist für Führung noch enger geworden.

(Volle) Autonomie ist allerdings nur für jene Mitarbeitenden geeignet, die mit Flexibilität umgehen können und in der Lage sind, ihren Tag und ihre Arbeit zu strukturieren. Manche brauchen die „Politik der kleinen Schritte“, um Sicherheit zu gewinnen. Das Besprechen des nächsten Tages oder der nächsten Aufgaben; mit der Klarheit, welche Option welche Konsequenz mit sich bringt – und der Sicherheit, dass die Führungskraft hinter einem/r steht.

Verwendete Literatur

Chung, H. (2016). Flexible working is making us work longer. WWW: http://scitechconnect.elsevier.com/flexible-working-work-longer/ (2020-11-29)
Stangl, W. (2020). Stichwort: ‚Reaktanz‘. Online Lexikon für Psychologie und Pädagogik.
WWW: https://lexikon.stangl.eu/1844/reaktanz/ (2020-11-29)

 

In der Vereinbarkeitsfalle

Vom Fluch und Segen der Zeitflexibilität, von überkommenden Kulturmustern und wie HR gegensteuert

Der vierte Frühstücks-Salon des Team Breite Gasse von Martina Friedl und Gerhild Deutinger hatte aufgrund des zweiten Lockdown an Brisanz gewonnen: Wie gehen Organisationen mit dem Thema Vereinbarkeit um? Wie erleben Führungskräfte den Spagat von Work-Life-Family? Und wie können – im Sinne der Gesundheit der Mitarbeitenden – Konfliktpotenziale wie dauernde Erreichbarkeit oder Arbeit an Randzeiten nach Home-Schooling oder wenn Bandbreiten wieder offen sind aufgelöst werden?

Das Thema Vereinbarkeit selbst ist ja kein Neues. Schon vor der Pandemie mussten sich Singles, Paare, Familien und Organisationen die Frage stellen, wie sie die zur Verfügung stehende Zeit optimal aufteilen. Optimal so, dass weder die Arbeit noch die Familie noch das eigene Selbst – Stichwort Selbstfürsorge – zu kurz kamen. Die Balance war ohne Corona für manche schon schwer zu halten. Die beiden Psychologinnen (Masterstudierende an der Universität Wien) Magdalena Mayer und Maria Lena Mayer haben im Spätherbst 2019 potenzielle Copingstrategien von Zweiverdiener-Paaren untersucht (hier geht es zu den Folien). Ihre Ergebnisse zeigten, dass im „alten Normal“ eine Trennung zwischen Arbeit und Familie hilft, den Work-Family-Konflikt möglichst gering zu halten. Eine Trennung, die es für viele im Home Office seit März 2020 nicht mehr gab oder gibt.

Die beiden Wissenschafterinnen untersuchten weiters, welche Copingstrategie unter Stress welche Wirkung hat: eine hohe Familienorientierung („family first“) verschlimmert den Arbeit-Familien-Konflikt. Flexibilität als Strategie hat unter Stress einen verbessernden Effekt auf den Arbeit-Familien-Konflikt.

Vor diesem Hintergrund diskutieren wir mit über zwanzig Teilnehmer*innen in unserem Frühstücks-Salon, welche Wirkung Flexibilität in Zeiten des Lockdowns und danach haben kann. Die meisten Firmenvertreter*innen konnten über eine Zeitflexibilisierung während des ersten Lockdowns berichten: vom Abschaffen der Kernarbeitszeit zu vollkommenden offenen Zeitstrukturen bis hin zu Freistellungen für alle, die Kinder unter 14 Jahren betreuen mussten. Frauen haben zunächst diese Möglichkeiten mehr genutzt als Männer, was von einer Teilnehmerin als klassisches Rollenverteilungsmuster interpretiert wurde: „Männer arbeiten, Frauen arbeiten und betreuen“. Die Corona-Panels der Universität Wien zeigen ebenso einen Überhang der Care-Arbeit bei Frauen wie die Studien, die Martina Friedl beim Frühstücks-Salon zusammengefasst hat (-> hier zum Download). Kommen wir also in eine Re-Traditionalisierung?

Die Gefahr, dass das Instrument Freistellung Frauen nicht stärke und stütze, sind gegeben. Vor allem Frauen in Führungspositionen und Wissenschafterinnen fallen, wenn sie zeitliche Caring-Optionen ziehen, aus der internen und externen Wahrnehmung. Zeitflexibilitätwiederum führe bei sehr engagierten Mitarbeitenden dazu, dass die Überarbeitung zunimmt. Die ersten Beobachtungen der Zunahme von einer Burn-Out-Gefährungen liegen vor  (lesen Sie dazu auch den Artikel „Autonom durch den Nebel?“).

Beim Gegensteuern durch die Organisationen zeigen sich noch keine einheitlichen Muster. Denn jeder Maßnahme liegt eine unmittelbare Gefahr inne. In Deutschland setzt man seit längerem – wie bei unserer Diskussion – auf noch mehr Zeitflexibilität. Gleichzeitig neigen Organisationen dazu, Frauen die Zeithoheit zur Erfüllung ihrer Caring-Aufgaben zu übertragen und nicht für neue Projekte oder Herausforderungen. Die Forscherinnen Heejung Chung und Yvonne Lott der Universität Kent beobachten in der Erhöhung der Flexibilität bei der Arbeit eine neue / alte Durchsetzung traditioneller Geschlechterrollen und eine Erhöhung der Geschlechterungleichheit.

In der Diskussion unseres Frühstücks-Salons wurde weiters die Bedeutung der unmittelbaren Führungskraft herausgestrichen; sie kann und soll beobachtend und steuernd auf einzelne Teammitglieder einwirken. Zu hoffen bleibt, dass damit Führungskräfte nicht überfordert werden, vor allem nicht jene, die als Personen selbst mit einer Vereinbarkeitsproblematik leben müssen. Mehr dazu auch in unserem Artikel  Fürsorge im „next normal“. 

Empfehlungen für mehr zum Thema:

  • Am 9. Dezember 2020 veranstaltet die WU Wien eine Veranstaltung zum Thema verantwortungsvolles Führen. Mehr -> hier.
  • Testlauf für eine App namens „swoliba“, die Mitarbeiter*innen unterstützt, im Homeoffice produktiv zu arbeiten und die eigene Erholung nicht zu vernachlässigen. Informationen erhalten Sie in diesem -> Video
    Das Projekt wird in Zusammenarbeit mit dem Angestelltenbetriebsrat des Internationalen Flughafens Wien und der Forschungsgruppe INSO (Industrial Software) der TU Wien durchgeführt. Die Studie wird von der Arbeiterkammer Niederösterreich im Rahmen des Projektfonds Arbeit 4.0 gefördert. In dieser App findet sich eine Vielzahl an wissenschaftlich fundierten Strategien für die Arbeit im Homeoffice, die selbstständig in den Alltag integriert werden können. Der Testlauf ist für Personen und ganze Organisation möglich; die Erhebung startet im Jänner 2021. Nähere Infos Maria Magdalena Mayer (mayer@tuwien.at).

 

Fürsorge im „next normal“

Fürsorge für andere, Fürsorge für die Wirtschaft, das Klima und sich selbst. Hohe Anforderungen, die das nächste Normal ganz anders werden lassen könnten als das „alte Normal“.

„Caring Economy“. So nennt sich eines der Hoffnungsmodelle für das nächste Normal. Geprägt wurde der Begriff von der US-Wissenschaftlerin Riane Eisler und sie meint damit eine Wirtschaftsform, deren Ziel ein gutes Leben für alle ist. Wie kann das gehen und warum steht Fürsorge ganz oben?

Die Pandemie hat uns die Grenzen der Gesundheitsbranchen und des ewigen Wirtschaftswachstums deutlich gezeigt. Schon vor der Corona-Krise war der Klimawandel eines der Top-Themen, die nicht mit der notwendigen Konsequenz von Staaten und Unternehmen umgesetzt wurden.

Eisler schlägt deshalb vor, statt des Bruttoinlandsprodukts (BIP) eine neue Kennzahl einzuführen, die eines „Sozialen Wohlstandsindex“ . Dieser Index macht – anders als das (BIP) – die Rentabilität von Investitionen in Fürsorge für Mensch und Umwelt sichtbar. Das würde bedeuten, dass „Werte“ aus Fürsorge und Pflege für Familie und Gesellschaft wie auch Umwelt- und Klimaschutz berücksichtigt werden. „Care-Arbeit“ wie Familienfürsorge und Pflege werden nach ihrem Modell als eigener Wirtschaftszweig betrachtet und in Kennzahlen bewertet – genauso wie die Wertschöpfung aus Kommunen und Naturquellen.

Was ich an diesem Ansatz spannend finde, ist die Diskussion, was als „wirtschaftlich produktiv“ gilt. Das könnte auch ein Gedankenanstoß für Unternehmen sein. Nicht nur dem Außendienst die „Kennzahl wirtschaftlich produktiv“ zu geben, sondern – und ganz besonders – den Leistungen im Innendienst, die den Vertrieb möglich machen. Denn „wirtschaftlich produktiv“ ist es auch, wenn Führungskräfte sich Zeit für die Kommunikation, für das Zuhören und die Sorgen der Mitarbeiter*innen machen. Es ist wirtschaftlich produktiv, wenn sie Teamkonflikte frühzeitig besprechen, wenn sie Reflexionen anstoßen und für Motivation im Team sorgen.

Selbstfürsorge für Führungskräfte

Bevor sie all das leisten können, ist es auch „wirtschaftlich produktiv“, auf die eigene Gesundheit zu achten. Gesunde Führung beginnt bei den Führungskräften. Sind sie im Stress überträgt sich das auf das Team. Sie sind gereizt und angespannt, verengt sich ihre Aufmerksamkeit. Daher ist das bewusste Gegensteuern durch Selbstfürsorge nicht eine Empfehlung sondern eigentlich ein Muss. Jede Führungsperson muss die Möglichkeit haben, zu entspannen und auf die eigene Gesundheit zu achten. Dabei helfen die Fragen: Was tue ich für mich, was mir gut tut? Mit welchen Aktivitäten (oder welcher erlaubten Passivität) regeneriere ich mich und tanke ich auf? Was trägt, stützt und stärkt mich? Nur wenn Führungsverantwortliche zulassen, für sich selbst Zeit und Raum einzuplanen, dann können sie gut für andere sorgen. Und ein gutes Vorbild in der aktuellen Zeit der Unsicherheit sein.

Buchempfehlung

Riane Eisler: „Die verkannten Grundlagen der Ökonomie“. Im Original 2007 unter dem Titel „The Real Wealth of Nations“ in den USA veröffentlicht; jetzt in deutscher Übersetzung.