Archiv des Autors: Gerhild Deutinger

Mutmachende Zitate

Eine Vielzahl von Aussprüchen wichtiger Protagonisten aus Literatur und Wissenschaft oder Personen aus der Konzernspitze erweckt den Anschein, Veränderung und Vereinbarkeit seien etwas sehr Anstrengendes, mit viel Aufwand, Widerstand und negativen Konnotationen verbunden. Wie etwa die Aussage des Theologen Thomas von Acquin, der im 13. Jahrhundert den Ausspruch prägte:

„Für Wunder muss man beten, für Veränderungen aber arbeiten.“

Dem möchten wir ein paar mutmachende Zitate gegenüberstellen.

Das erste meines persönlichen Lieblingsdramatikers George Bernard Shaw, Nobelpreisträger für Literatur:

Wenn Sie einen Apfel haben und ich einen Apfel habe und wir diese Äpfel austauschen, dann haben sie und ich immer beide noch einen Apfel. Aber wenn Sie eine Idee haben und ich eine Idee habe und wir diese Ideen austauschen, dann wird jeder von uns zwei Ideen haben.

In die Neuzeit übersetzt das Steffen Kirchner, Motivationstrainer im Sport so:

Menschen, die miteinander arbeiten, addieren ihre Potenziale. Menschen, die füreinander arbeiten, multiplizieren ihre Potenziale!

Ähnlich wie Greta Thunberg heute plädierte Margaret Mead an den Mut des oder der einzelnen:

Glaube nie, dass ein paar wenige, engagierte Menschen nicht die Welt verändern können. Denn nur solche Menschen sind es, die es bisher getan haben.

Zum Themenschwerpunkt Diversität halte ich mich gerne Friedrich Hebbel, der um 1830 herum den Ausspruch tätigte:

Jedenfalls ist es besser, ein eckiges Etwas als ein rundes Nichts zu sein.

Und wenn ich wieder einmal ungeduldig bin, weil die gesellschaftliche Weiterentwicklung zu langsam geht, dann erinnere ich mich an Margaret Thatcher, die (zwar in anderem Zusammenhang, aber man kann Zitate ja entlehnen und umdeuten) meinte:

Geduld ist eine gute Eigenschaft. Aber nicht, wenn es um die Beseitigung von Missständen geht.

Vereinbarkeit und New Work gemeinsam denken

Ein Nachbericht zu unserem Frühstücks-Salon vom 4. März 2021

Eine dicht geballte Ladung an Erfahrungen, an Experimenten und Probeballons ließen die Teilnehmerinnen unseres Frühstücks-Salons „Vereinbarkeit post Corona“ am 4. März 2021 steigen. Die neuen Erfahrungen mit dem virtuellen Führen, dem Führen auf Distanz, der zunehmenden Individualisierung und steigenden Anforderung zur Flexibilisierung wurden geteilt und Unternehmen wie Wissenschaftsorganisationen staunten über die Fülle an Angeboten, die während der Pandemie entwickelt wurde: Online-Angebote, um psychische Belastungen zu bewältigen, Trainings für das neue Führen, online Teambuildings zur Konfliktbereinigung, flexibelste Betreuungsangebote an einem Unistandort für Kinder ab einem Alter von 8 Wochen bis 12 Jahre, Freistellungen und Sonderzeiten für Mütter wie Väter, Nudging für Männer, um Carearbeit während der Pandemie zu übernehmen, Corona-Boni …. Martina Friedl und ich kamen während der 75 Minuten dauernden Veranstaltung aus dem Staunen über den Mut und Experimentierfreude von PE und OE kaum heraus.

Bis März 2021 stand in den meisten Organisationen die Stabilisierung von Mitarbeitenden und Führungskräften und die rasche Unterstützung bei Vereinbarkeitsproblemen im Fokus. Das könnte sich nun ändern: die Zeit der Reflexion und Zukunftsplanung ist gekommen. Welche der Ideen sind gekommen, um zu bleiben? Welche dienten rein der Krisenbewältigung und werden wieder verschwinden?

Was wir erkennen und als These mit in diesem Frühstücks-Salon gebracht haben: Vereinbarkeit und New Work müssen gemeinsam gedacht und geplant werden. Das könnte für beide Themen der Durchbruch sein! Eine Verknüpfung beider Aspekte hilft, um Organisationen ein Stück weit zu besseren Arbeits- und Lebenswelten zu machen.

Erste Verknüpfungen, die in unserem Frühstücks-Salon angeschnitten wurden:

  • „Leistung“ neu definieren und die Bonussysteme darauf ausrichten. Dort, wo Leistung immer noch an Anwesenheit oder an Verkaufszahlen gemessen wird, könnte ein neuer Leistungsbegriff einen Kulturwandel einläuten. Wie wird Leistung für jene definiert, die nicht im 40-Stunden-Rad werken, die egal welchen Geschlechts temporär oder dauerhaft Carepflichten erfüllen? Wie sieht die Generation Z Leistung? Können heute schon Vereinbarkeitsangebote entwickelt werden, um für Junge attraktiv(er) zu werden möglich?
  • Teilgruppen mit gleichen Bedürfnissen besser adressieren. In der Pandemie erkannten Organisationen, dass sie Eltern mit Kleinkindern mit speziellen Themen extra adressieren und ansprechen können – ebenso wie Singles, die im home-office u.U. vereinsamen. Die einen wollten Rechtsberatung, die anderen Beziehungspflege. Nicht die hierarchische Ebene, nicht das fachliche Team, sondern die Bedürfnislagen zählen im „neuen Normal“. Aus der Diversitätsforschung und Maßnahmen v.a. amerikanischer Konzerne, verschiedene ethnische Zugehörigkeiten anzusprechen, können wir bei der gezielten Teilgruppen-Ansprache lernen.
  • Mitarbeitende ganzheitlich wahrnehmen. Eine Teilnehmerin im Frühstücks-Salon berichtete, dass ihre Organisation ab sofort Familiencoachings anbietet. Life spielt ins Work hinein und umgekehrt – hier werden wir sicher noch neue Formate finden. Mit der kleinen Warnung unsererseits: Als Copingstrategie ist eine klare Trennung zwischen Arbeit und Familie gerade für Jungfamilien sinnvoll.
  • Adaption im Recruiting. In der Pandemie stellte sich das Thema Zeit komplett neu. Wann wollen wir arbeiten und wieviel? Waren bislang Teilzeit-Angebote eher rar – vor allem auch beim Thema Führen in Teilzeit – könnten sich nun neue Angebotsfenster öffnen. Eine Teilnehmerin unserer Diskussion hat für ihre Organisation entschieden, Funktionen, die bislang nur als Ganztags-Jobs gedacht und angeboten wurden, als Teilzeitstellen anzubieten. Auch, wenn sie damit mehr Mitarbeitende führt –  für die Generation Z (oder die noch später folgenden „Generation Greta“) wird sie attraktiv sein.
  • Empowerment Angebote für alle. Wenn es zu einer echten Gleichstellung von Mann und Frau kommen soll, dann braucht es Empowerment für beide Geschlechter. Es reicht nicht nur, das Angebot für Mütter auch Vätern zugänglich zu machen. Es braucht ein neu erdachtes Miteinander, damit Väter ihre Betreuungspflicht in gleicher Weise leisten und leben können. Jetzt könnte ein passender Zeitpunkt sein, um attraktivere Formen von Auszeiten einzuführen, neue Meetingkulturen zu entwickeln und ein Miteinander unter Vereinbarkeitsgesichtspunkten zu leben.

Ein Link aus der Frühstückerinnen-Runde möchten wir Ihnen gerne weiterreichen:
„Der Weg zur familienorientierten Hochschule – Lessons Learnt aus der Corona-Pandemie“.

Diese CHE-Publikation erschien am 24. Februar 2021. Sie beinhaltet Interviews mit acht Familienverantwortlichen an sechs deutschen sowie einer österreichischen Hochschule im Zeitraum Juni bis September 2020.

Der nächste Frühstücks-Salon findet am 23. Juni 2021 zum Thema „Never Normal?“ statt. Voranmeldungen dazu sind ab sofort unter assistenz@impulsbuero.at möglich.

 

Change Kommunikation zum Nachhören

Wir freuen uns sehr über zwei Podcast-Interviews von Gerhild Deutinger zu den Themen Change Kommunikation und Emotionen in der Veränderung. Befragt wurde unsere impulsbüro.-Leiterin von Birgit Rüscher von der E-Learning Group im Rahmen der MASTERMINDS Podcast, die aktuelle Business-Themen aufnehmen.
Jetzt Podcast-Interviews anhören:

Unmögliches schaffen?

So geht Kulturwandel

Das Pandemie-Jahr hat gezeigt: Bislang unmöglich Gedachtes ist machbar. In kürzester Zeit ist Digitalisierung im Bildungssektor und in den Büros umgesetzt worden – mit wachsender Akzeptanz. Aber auch viel Kommunikationsbedarf.

Mit diesem Schwung an Möglichkeiten können Sie jetzt Ihre Veränderungen starten. Denn es ist mehr machbar, als wir gemeinhin annehmen. Doch: Starten Sie nicht planlos in die guten Ideen des „Next Normal“. Für einen tiefgreifenden Kulturwandel sollten Sie drei W-Aspekte beachten:

  • WARUM? Klären Sie, mit der Belegschaft, warum Sie tun, was Sie tun. Was ist der Kern Ihres Daseins? Wie macht Ihre Organisation die Welt besser – oder zumindest Ihr Umfeld? Auf Neudeutsch werden diese Gedanken unter dem Begriff „Purpose“ zusammengefasst. Profitmaximierung oder die Zufriedenheit von Share- und Stakeholdern ist nicht mehr genug. Es geht um den tiefgreifenden Sinn, den Mehrwert, den die Organisation für die Gesellschaft bringt.
  • WOHIN? Als nächstes braucht es einen „Nordstern“, eine Orientierung, wohin die Organisation ab 2021 steuert. Dieser hilft allen, eine gemeinsame Ausrichtung zu finden. Diesen „Nordstern“ müssen wirklich alle Mitarbeiter*innen kennen und (am Organisationsfirmament) finden können, sprich – sie müssen wissen, was diese Neuausrichtung mit ihrem ganz eigenen Arbeitsfeld zu tun hat und was sich ändert.
  • WIE? Durch die Pandemie und die erlebte Distanz ist der Wunsch nach Beziehung und Zusammengehörigkeit gewachsen. Nehmen Sie also Ihre Belegschaft mit – in der Planung, im Suchen und Bestimmen des Nordsterns und in der Reise ins Neue. Gemeinsam ins nächste Normal hilft, die Akzeptanz eines Wandels zu erhöhen.

Hybride Führung und fluides Arbeiten

Gestärkt aus der Krise kommen

Führungskräfte stehen seit März 2020 vor einer Vielzahl von Fragen: Wie führe ich ein Team, das teilweise zu Hause und teilweise im Home-Office sitzt? Wie erreiche ich alle? Wieviel Vertrauen ist notwendig und wieviel Kontrolle wäre besser?

So wie sich Wirtschaft und Gesellschaft wandeln, so ändert sich auch Führung aktuell. Sie muss sich hinterfragen, adaptieren und neu erfinden. Es geht aktuell nicht darum, unbeschadet die Krise zu überstehen. Es geht darum, gestärkt aus der Krise hervorzugehen. Das Modell des „hybriden Führens“ könnte helfen.

„Hybrid führen“ bedeutet, klassische Führung mit agiler Führung zu kombinieren; unter der Voraussetzung, dass die Führungskraft erkennt, wann das eine und wann das andere zielführender ist. Die Instrumente der klassischen Führung kennen Sie alle: regelmäßige Mitarbeiter*innen-Gespräche, Feed-backs, Zielvereinbarungen, Auftragsvergaben, (Budget-)Verantwortung usw. In der „agilen Führung“ ist der Vorgesetzte ein Ermöglicher; er oder sie gibt Freiräume im Denken, im Handeln, im Ausprobieren. Fehler machen ist erlaubt und erwünscht, Selbstentscheidung selbstverständlich. Basis des agilen Führens ist eine hohe Vertrauenskultur und eine konsequente Kunden- oder Klient*innen-Zentrierung. Hybride Führungskräfte „fahren“ auf beiden Schienen: je nach Mitarbeitendem, je nach Situation, je nach Notwendigkeit.

Vodafone Deutschland mit seinem aus Österreich stammenden CEO Hannes Ametsreiter hat für sich das Konzept des fluiden Arbeitens umgesetzt, das es ebenso erlaubt, gestärkt aus der Krise zu kommen. Kernstück hier ist die permanente Miteinbeziehung der Mitarbeitenden in die Entwicklung des Morgens. In Fokusgruppen werden Mitarbeiter*innen regelmäßig in Planungsprozesse einbezogen – und in Entscheidungsprozesse. „Fluides Arbeiten“ bei diesem Telekom-Anbieter lässt Mitarbeitende selbst entscheiden, was für sie am besten ist und wann, wo und wie sie am produktivsten sein können. Und Beziehung gewinnt an Bedeutung. Ein schöner Satz aus der Eigen-Darstellung von Vodafone: Menschen (sind) zutiefst soziale Wesen; eine Videokonferenz (kann) niemals ein Schulterklopfen ersetzen.

 

Echte Veränderung – geht das?

Realisieren Sie Ihren Vorsatz 2021, die Chance in der Krise zu nutzen

Wer unserem Herrn Bundespräsident bei der Neujahrsansprache zugehört hat, hat hoffentlich auch seinen Appell vernommen. Wunderbar ausgedrückt meinte er, dass „irgendwann in den nächsten Monaten (…) sich langsam das Gefühl einstellen wird, dass die Pandemie vorbei ist oder zumindest unter Kontrolle. Lassen Sie uns dann das Jahr 2020 nicht so schnell wie möglich vergessen und zur Tagesordnung übergehen. Erinnern wir uns dann an diese Zeit zwischen den Jahren. Und an das Gefühl, wie offen und gestaltbar unsere Zukunft ist, wenn wir das wollen.“

Der menschliche – und auch der organisationale – Wunsch nach Rückkehr ins Bisherige, Vertraute ist nachvollziehbar. Genau dem sollten Sie nicht nachgeben: Wann ergibt sich wieder einmal die Chance, Abläufe, Einstellungen, Hierarchien, Ausrichtungen komplett neu zu denken und aufzusetzen? Wer von Ihnen schon einen Kulturwandel vollzogen hat, weiß um die Bedeutung des passenden Timings und die Anstrengungen, die es kostet, alle von den Notwendigkeiten der Veränderung zu überzeugen. Jetzt ist der beste Zeitpunkt, denn mehr Notwendigkeit als nach einer Krise gibt es gar nicht!

Was kommt, was bleibt, was geht?

Idealerweise entsteht das Neue gemeinsam. Nie war Partizipation so notwendig, wie gerade in der Zeit nach der Krise. Im Mit-Denken vieler, in der Reflexion und in der Kreation mit jenen, die sich am besten in der Organisation auskennen, steckt Zukunfts-Potenzial. Starten Sie diese gemeinsame Reise ins Neue am besten mit drei einfachen Fragen: Was aus Sicht der Mitarbeitenden und aus Sicht der Stakeholder wird kommen? Was aus dem Bisherigen ist nach wie vor gut und sollte bleiben? Und wovon kann man sich endlich guten Gewissens verabschieden – bzw. soll bewusst beendet werden.

Autonom durch den Nebel

Die Art, wie Führungskräfte ihre Teams durch den Nebel lotsen, sind verschieden: Kleine, reflektierbare Schritte oder volle Autonomie für die Mitarbeitenden – beides kann notwendig sein.

Nicht wenige Führungskräfte haben im neuen Normal das Gefühl, die Kontrolle zu verlieren. Nicht andauernd, aber immer mal wieder. Einige reagieren mit Micromanagement und laufender Zeit- und Leistungsüberprüfung ihre Mitarbeitenden. Das führt auf der anderen Seite zu Frustration und Resignation – und in manchen Fällen zu Reaktanz. Als Reaktanz beschreibt die Psychologie eine Abwehrreaktion, wenn der gefühlte Entscheidungsraum eingeengt wird oder sogar wegfällt. Wenn also bisher autonome Entscheidungen des einzelnen Mitarbeitenden beispielsweise wie er den Arbeitstag gestaltet, welche Aufgaben er wie priorisiert nun im Home Office eingeschränkt werden, dann kann dies zu sehr heftigen Reaktionen führen. Denn nachvollziehbar ist: „Nimmt mir jemand meine bisherigen Freiheiten weg, dann hole ich sie mir zurück!“ Durch „Dienst nach Vorschrift“, durch stumpfes Nachfragen oder Blödstellen, durch bewusstes Fehlermachen oder „Delegieren nach oben“ – die Varianten reaktanten Verhaltens sind so groß wie die Bandbreite menschlicher Phantasien.

Die gute Nachricht für Führung: Autonomie zulassen – gerade in Zeiten der Unsicherheit – hilft. Einem Teil des Teams gibt dieses Gefühl anhaltender Freiheit und Freiräume Sicherheit. Diese Mitarbeiter*innen, die mit Flexibilität umgehen können, gewinnen so Boden unter den Füßen, weil ihre Autonomie nicht in Frage gestellt wird. Je mehr Freiheit umso mehr Sicherheit. Und vor allem umso mehr Leistung. Interessanterweise zeigen Studien, dass Menschen, die viel Kontrolle über ihre Arbeitsgestaltung haben, mehr arbeiten. „Die Zunahme der Arbeitszeit war am größten, wenn die Arbeitnehmer*innen volle Autonomie hatten“, so Heejung Chung und Yvonne Lott zu einer Datenanalyse in Deutschland. Ihre Erkenntnisse werden heute unter dem Begriff „Paradox der Autonomie“ zusammengefasst. Was auf der umkehrten Seite eine Burn-Out-Gefahr drohen lässt. Der Spagat zwischen Autonomiegewährung und gute Beobachtung aller Teammitglieder ist für Führung noch enger geworden.

(Volle) Autonomie ist allerdings nur für jene Mitarbeitenden geeignet, die mit Flexibilität umgehen können und in der Lage sind, ihren Tag und ihre Arbeit zu strukturieren. Manche brauchen die „Politik der kleinen Schritte“, um Sicherheit zu gewinnen. Das Besprechen des nächsten Tages oder der nächsten Aufgaben; mit der Klarheit, welche Option welche Konsequenz mit sich bringt – und der Sicherheit, dass die Führungskraft hinter einem/r steht.

Verwendete Literatur

Chung, H. (2016). Flexible working is making us work longer. WWW: http://scitechconnect.elsevier.com/flexible-working-work-longer/ (2020-11-29)
Stangl, W. (2020). Stichwort: ‚Reaktanz‘. Online Lexikon für Psychologie und Pädagogik.
WWW: https://lexikon.stangl.eu/1844/reaktanz/ (2020-11-29)

 

In der Vereinbarkeitsfalle

Vom Fluch und Segen der Zeitflexibilität, von überkommenden Kulturmustern und wie HR gegensteuert

Der vierte Frühstücks-Salon des Team Breite Gasse von Martina Friedl und Gerhild Deutinger hatte aufgrund des zweiten Lockdown an Brisanz gewonnen: Wie gehen Organisationen mit dem Thema Vereinbarkeit um? Wie erleben Führungskräfte den Spagat von Work-Life-Family? Und wie können – im Sinne der Gesundheit der Mitarbeitenden – Konfliktpotenziale wie dauernde Erreichbarkeit oder Arbeit an Randzeiten nach Home-Schooling oder wenn Bandbreiten wieder offen sind aufgelöst werden?

Das Thema Vereinbarkeit selbst ist ja kein Neues. Schon vor der Pandemie mussten sich Singles, Paare, Familien und Organisationen die Frage stellen, wie sie die zur Verfügung stehende Zeit optimal aufteilen. Optimal so, dass weder die Arbeit noch die Familie noch das eigene Selbst – Stichwort Selbstfürsorge – zu kurz kamen. Die Balance war ohne Corona für manche schon schwer zu halten. Die beiden Psychologinnen (Masterstudierende an der Universität Wien) Magdalena Mayer und Maria Lena Mayer haben im Spätherbst 2019 potenzielle Copingstrategien von Zweiverdiener-Paaren untersucht (hier geht es zu den Folien). Ihre Ergebnisse zeigten, dass im „alten Normal“ eine Trennung zwischen Arbeit und Familie hilft, den Work-Family-Konflikt möglichst gering zu halten. Eine Trennung, die es für viele im Home Office seit März 2020 nicht mehr gab oder gibt.

Die beiden Wissenschafterinnen untersuchten weiters, welche Copingstrategie unter Stress welche Wirkung hat: eine hohe Familienorientierung („family first“) verschlimmert den Arbeit-Familien-Konflikt. Flexibilität als Strategie hat unter Stress einen verbessernden Effekt auf den Arbeit-Familien-Konflikt.

Vor diesem Hintergrund diskutieren wir mit über zwanzig Teilnehmer*innen in unserem Frühstücks-Salon, welche Wirkung Flexibilität in Zeiten des Lockdowns und danach haben kann. Die meisten Firmenvertreter*innen konnten über eine Zeitflexibilisierung während des ersten Lockdowns berichten: vom Abschaffen der Kernarbeitszeit zu vollkommenden offenen Zeitstrukturen bis hin zu Freistellungen für alle, die Kinder unter 14 Jahren betreuen mussten. Frauen haben zunächst diese Möglichkeiten mehr genutzt als Männer, was von einer Teilnehmerin als klassisches Rollenverteilungsmuster interpretiert wurde: „Männer arbeiten, Frauen arbeiten und betreuen“. Die Corona-Panels der Universität Wien zeigen ebenso einen Überhang der Care-Arbeit bei Frauen wie die Studien, die Martina Friedl beim Frühstücks-Salon zusammengefasst hat (-> hier zum Download). Kommen wir also in eine Re-Traditionalisierung?

Die Gefahr, dass das Instrument Freistellung Frauen nicht stärke und stütze, sind gegeben. Vor allem Frauen in Führungspositionen und Wissenschafterinnen fallen, wenn sie zeitliche Caring-Optionen ziehen, aus der internen und externen Wahrnehmung. Zeitflexibilitätwiederum führe bei sehr engagierten Mitarbeitenden dazu, dass die Überarbeitung zunimmt. Die ersten Beobachtungen der Zunahme von einer Burn-Out-Gefährungen liegen vor  (lesen Sie dazu auch den Artikel „Autonom durch den Nebel?“).

Beim Gegensteuern durch die Organisationen zeigen sich noch keine einheitlichen Muster. Denn jeder Maßnahme liegt eine unmittelbare Gefahr inne. In Deutschland setzt man seit längerem – wie bei unserer Diskussion – auf noch mehr Zeitflexibilität. Gleichzeitig neigen Organisationen dazu, Frauen die Zeithoheit zur Erfüllung ihrer Caring-Aufgaben zu übertragen und nicht für neue Projekte oder Herausforderungen. Die Forscherinnen Heejung Chung und Yvonne Lott der Universität Kent beobachten in der Erhöhung der Flexibilität bei der Arbeit eine neue / alte Durchsetzung traditioneller Geschlechterrollen und eine Erhöhung der Geschlechterungleichheit.

In der Diskussion unseres Frühstücks-Salons wurde weiters die Bedeutung der unmittelbaren Führungskraft herausgestrichen; sie kann und soll beobachtend und steuernd auf einzelne Teammitglieder einwirken. Zu hoffen bleibt, dass damit Führungskräfte nicht überfordert werden, vor allem nicht jene, die als Personen selbst mit einer Vereinbarkeitsproblematik leben müssen. Mehr dazu auch in unserem Artikel  Fürsorge im „next normal“. 

Empfehlungen für mehr zum Thema:

  • Am 9. Dezember 2020 veranstaltet die WU Wien eine Veranstaltung zum Thema verantwortungsvolles Führen. Mehr -> hier.
  • Testlauf für eine App namens „swoliba“, die Mitarbeiter*innen unterstützt, im Homeoffice produktiv zu arbeiten und die eigene Erholung nicht zu vernachlässigen. Informationen erhalten Sie in diesem -> Video
    Das Projekt wird in Zusammenarbeit mit dem Angestelltenbetriebsrat des Internationalen Flughafens Wien und der Forschungsgruppe INSO (Industrial Software) der TU Wien durchgeführt. Die Studie wird von der Arbeiterkammer Niederösterreich im Rahmen des Projektfonds Arbeit 4.0 gefördert. In dieser App findet sich eine Vielzahl an wissenschaftlich fundierten Strategien für die Arbeit im Homeoffice, die selbstständig in den Alltag integriert werden können. Der Testlauf ist für Personen und ganze Organisation möglich; die Erhebung startet im Jänner 2021. Nähere Infos Maria Magdalena Mayer (mayer@tuwien.at).

 

Fürsorge im „next normal“

Fürsorge für andere, Fürsorge für die Wirtschaft, das Klima und sich selbst. Hohe Anforderungen, die das nächste Normal ganz anders werden lassen könnten als das „alte Normal“.

„Caring Economy“. So nennt sich eines der Hoffnungsmodelle für das nächste Normal. Geprägt wurde der Begriff von der US-Wissenschaftlerin Riane Eisler und sie meint damit eine Wirtschaftsform, deren Ziel ein gutes Leben für alle ist. Wie kann das gehen und warum steht Fürsorge ganz oben?

Die Pandemie hat uns die Grenzen der Gesundheitsbranchen und des ewigen Wirtschaftswachstums deutlich gezeigt. Schon vor der Corona-Krise war der Klimawandel eines der Top-Themen, die nicht mit der notwendigen Konsequenz von Staaten und Unternehmen umgesetzt wurden.

Eisler schlägt deshalb vor, statt des Bruttoinlandsprodukts (BIP) eine neue Kennzahl einzuführen, die eines „Sozialen Wohlstandsindex“ . Dieser Index macht – anders als das (BIP) – die Rentabilität von Investitionen in Fürsorge für Mensch und Umwelt sichtbar. Das würde bedeuten, dass „Werte“ aus Fürsorge und Pflege für Familie und Gesellschaft wie auch Umwelt- und Klimaschutz berücksichtigt werden. „Care-Arbeit“ wie Familienfürsorge und Pflege werden nach ihrem Modell als eigener Wirtschaftszweig betrachtet und in Kennzahlen bewertet – genauso wie die Wertschöpfung aus Kommunen und Naturquellen.

Was ich an diesem Ansatz spannend finde, ist die Diskussion, was als „wirtschaftlich produktiv“ gilt. Das könnte auch ein Gedankenanstoß für Unternehmen sein. Nicht nur dem Außendienst die „Kennzahl wirtschaftlich produktiv“ zu geben, sondern – und ganz besonders – den Leistungen im Innendienst, die den Vertrieb möglich machen. Denn „wirtschaftlich produktiv“ ist es auch, wenn Führungskräfte sich Zeit für die Kommunikation, für das Zuhören und die Sorgen der Mitarbeiter*innen machen. Es ist wirtschaftlich produktiv, wenn sie Teamkonflikte frühzeitig besprechen, wenn sie Reflexionen anstoßen und für Motivation im Team sorgen.

Selbstfürsorge für Führungskräfte

Bevor sie all das leisten können, ist es auch „wirtschaftlich produktiv“, auf die eigene Gesundheit zu achten. Gesunde Führung beginnt bei den Führungskräften. Sind sie im Stress überträgt sich das auf das Team. Sie sind gereizt und angespannt, verengt sich ihre Aufmerksamkeit. Daher ist das bewusste Gegensteuern durch Selbstfürsorge nicht eine Empfehlung sondern eigentlich ein Muss. Jede Führungsperson muss die Möglichkeit haben, zu entspannen und auf die eigene Gesundheit zu achten. Dabei helfen die Fragen: Was tue ich für mich, was mir gut tut? Mit welchen Aktivitäten (oder welcher erlaubten Passivität) regeneriere ich mich und tanke ich auf? Was trägt, stützt und stärkt mich? Nur wenn Führungsverantwortliche zulassen, für sich selbst Zeit und Raum einzuplanen, dann können sie gut für andere sorgen. Und ein gutes Vorbild in der aktuellen Zeit der Unsicherheit sein.

Buchempfehlung

Riane Eisler: „Die verkannten Grundlagen der Ökonomie“. Im Original 2007 unter dem Titel „The Real Wealth of Nations“ in den USA veröffentlicht; jetzt in deutscher Übersetzung.

 

Erliegen Sie nicht dem Semmelweis-Reflex

Gerade in Zeiten, in denen Vieles im Umbruch, in der Veränderung und manchmal auch in der Abkehr von überliefertem Handeln liegt, sollten wir stets offenbleiben und nicht dem Semmelweis-Reflex erliegen.

Namensgeber dieses Reflexes ist der aus Ungarn stammende und in Wien praktizierende Chirurg und Frauenarzt Ignaz Semmelweis (1818-1865). Ihn beunruhigt, dass Mütter im Wochenbett häufiger verstarben, wenn sie mit Ärzten in Kontakt waren. Zu seiner Zeit lag die Sterblichkeitsrate im Wochenbett der Geburtenstation bei 30%! Als er versuchen wollte, die Ursache zu ergründen und die Frauen noch intensiver untersuchte, stiegt die Zahl der Todesfälle noch weiter an. Er vermutete schließlich, dass die Infektionen auf mangelnde Hygiene zurückgingen und schrieb seinem Personal vor, sich vor jeder Untersuchung die Hände mit Chlorkalk zu desinfizieren. Diese Maßnahme senkte die Sterblichkeit der Frauen und Kinder in den Jahren 1847/48 dramatisch und seine Vorgehensweisen, eine Annahme evidenzbasiert zu prüfen, wird heute noch als Musterbeispiel für eine methodisch korrekte Überprüfung wissenschaftlicher Hypothesen genannt.

Soweit so gut, aber nun kommt das „große Aber“. Zu jener Zeit galt Hygiene als Zeitverschwendung und unvereinbar mit den damals geltenden Theorien über Krankheitsursachen. Semmelweis wurde zu einem Politikum. Seine Erkenntnisse wurden nicht nur nicht anerkannt, sie wurden als „spekulativer Unfug“ abgelehnt und als herber Affront gegen die Autorität der Ärzteschaft gewertet. Der Gedanke schien unerträglich, dass der als unfehlbar geltende Arzt nicht nur Heils- sondern auch Unheilsbringer sein soll. Semmelweis‘ Ideen wurden abgelehnt – aus einer Kränkung des Berufsstandes heraus ohne die Beachtung wichtiger Untersuchungen.

Der Semmelweis-Reflex steht bis heute für das Ablehnen von Fakten ohne guten Grund, nur weil man sich angegriffen fühlt.

Unfassbar meinen Sie? Überlegen Sie mal, wie oft wir – aus einer rein emotionalen und menschlichen Reaktion heraus – Fakten ignorieren und uns verteidigen, um den Status Quo zu erhalten. Selbst wenn es Fakten gibt, wollen wir ihnen nicht glauben und lehnen Neues ab. Weil der Bauch dem Kopf nicht trauen will oder kann. Ob das im Zusammenhang mit Klimaschutzmaßnahmen steht oder mit Corona-Fakten oder ganz einfach mit Neuerungen, die in der Berufs- und Privatwelt auf uns zukommen. Wenn also das nächste Mal eine (faktenbasierte) Veränderung auf Sie zukommt, erliegen Sie nicht sofort dem Semmelweis-Reflex. Hören Sie zuerst zu, prüfen und denken Sie nach oder probieren das Neue (probehalber) aus – vielleicht ist was Gutes dabei!